Praxisbeispiele

Wie im echten Leben - Projekt Baukasten: Spielfilmerarbeitung ab 7. Jahrgang
Kai Boeck und Claude Bonnet


Zeichnet es sich ab, dass Sie mit ihrer Gruppe einen Spielfilm drehen wollen? Hier eine Art "Grundbaukasten Spielfilm": Er besteht aus Elementen, die praktisch bei jeder Art von schulischem. Spielfilmprojekt von Bedeutung sind. Und wenn Sie sich Anregungen zu einer ganz bestimmten Art von Film wünschen: Geplant ist, dem "Grundbaukasten" sozusagen "Ergänzungskästen" folgen zu lassen, wo wir dann ausführlich auf konkrete Genres und Stoffe eingehen können, etwa auf technische und gestalterische Fragen speziell beim Krimi, bei einer Komödie, einer Liebesgeschichte usw.

Die Grundfrage

Welches Genre, welchen Stoff auch immer Ihre Gruppe anvisiert: als Betreuerin möchten Sie sicher, dass möglichst viel von den Sichtweisen und Ideen der Jugendlichen hineinkommt. Aber wie kann aus der Vielfalt in den Köpfen eine zusammenhängende, authentische Spielhandlung werden? Unser Erarbeitungsverfahren sieht drei Hauptphasen vor: erstens Ideensammlung anhand eines Gruppengesprächs, zweitens Dramatisierung der Ideen und Weiterentwicklung zu Szenen einer Story, drittens Ausarbeitung der Szenen und Dialoge anhand praktischer Schauspielerei. Der Zeitplan, den wir unter dem Stichwort "Organisation" angeben, gilt für die Erarbeitung eines ca. 5- bis 10minütigen Films.

  • Erste Unterrichtsphase (1 Std.): Gruppengespräch

  • Vorbereitung Lehrerin (2 Std.): Auswertung des Gruppengesprächs

  • Zweite Unterrichtsphase (1 Std.): Dramatisierung einzelner - Gesprächspassagen

  • Dritte Unterrichtsphase (2 Std.): Zusammenstellung der Filmhandlung in Kleingruppen

  • Vierte Unterrichtsphase (2 Std.): Besetzung der Rollen

  • Fünfte Unterrichtsphase (2 Nachmittage): Proben

Die Ideensammlung

Halten Sie die Schülerinnen und Schüler zunächst von allen direkten Überlegungen zu einer möglichen Filmhandlung ab! Storys sind schnell ausgedacht etwa anlässlich einer Klassenarbeit, fallen aber meist so banal aus, dass es sich nicht lohnt sie filmisch umzusetzen. Sammeln und sichern Sie statt dessen "Masse": inhaltliches, sprachliches, später dramaturgisches und szenisches Material. Sobald davon reichlich vorhanden ist, ist die passende Story im Handumdrehen gefunden. Der Weg: Sie führen ein intensives Gruppengespräch über alle inhaltlichen und emotionalen Aspekte des anvisierten Filmthemas durch. Dieses Gespräch halten Sie auf Video- oder Tonband fest. Damit haben Sie einen reichhaltigen "Pool" zum Themenkreis parat. Meinungen, Erfahrungen, Wünsche, große Gedanken, kleinere Überlegungen, emotionale Ehrlichkeiten, Scherze usw.

Das Drehbuch

Nach einigem Biegen, Feilen und Ergänzen an den vorläufigen Handlungssträngen liegen eine oder zwei filmtaugliche Storys vor, in denen die wichtigsten Charaktere, Szenen- und Dialogideen der Jugendlichen "überlebt" haben. Was noch fehlt, ist die filmerzählerische Umsetzung. Muss der Film so anfangen, wie es die Lage der Karten nahe legt? Oder wäre es spannender, mittendrin zu beginnen und das "Vorher" z. B. in Rückblenden darzustellen?

Sobald die erzählerische Struktur steht, beginnen Sie die praktische Arbeit mit den Schauspielerinnen. Das meiste, was inhaltlich/szenisch jetzt noch fehlt, um ein "Drehbuch" niederzuschreiben, wird sich hierbei ergeben. Tipps zu rein filmischen Aspekten des Drehbuchs werden wir in späteren Spielfilm-Projektbaukästen geben.

Regie

Regie ist eine sehr individuelle Angelegenheit, Trotzdem hier drei Tipps für den Umgang mit Laiendarstellern:

  • Befehlen Sie nicht! Sagen Sie nicht: "Setz' dich da hin, den Kopf in die Hand gestützt!" Bringen Sie die Schauspielerinnen und Schauspieler dazu, sich so weit wie irgend möglich selbst nach ihrem Gefühl, zu inszenieren.

  • Fordern Sie nicht! Sagen Sie nicht "Du musst das wütender spielen!" Rekapitulieren Sie statt dessen die emotionalen Zusammenhänge, die in der Rolle stecken.

  • Bestärken Sie! Vermitteln Sie den Darstellern nie das Gefühl, hoffnungslos schlecht gewesen zu sein! Reagieren Sie nach einer Darbietung sofort mit irgendeinem, wenn auch winzigen Lob!

Die Dramatisierung

Anhand der Videoaufzeichnung des Gruppengesprächs wählen Sie eine Reihe von Äußerungen/Fragen aus, die dazu geeignet erscheinen, zu einer kleinen Szene (mit oder ohne Dialog) umgeformt zu werden. Dies verteilen Sie als Aufgabe. In Kleinstgruppen oder in Einzelarbeit sollen die Schülerinnen und Schüler eine Mini-Handlung erfinden, in der sich die jeweilige Äußerung/Frage als Konflikt wiederfindet und die eine handfeste Auswirkung auf die handelnden Personen hat. Die Dialoge sollten bereits in direkter Rede geschrieben werden.

Jetzt geht es darum, die "Minis" miteinander zu kombinieren und in einer durchgehenden Filmhandlung aufgehen zu lassen. Für jedes Mini legen die Schülerinnen und Schüler eine Karteikarte an, auf der die jeweiligen Elemente übersichtlich festgehalten sind: Personen, Situationen, Stichworte zum Konflikt und zu seinem Ausgang. Aus jeweils drei bis vier Schülerinnen und Schüler bilden Sie nun "Story-Ausschüsse"; entsprechend oft werden die Karten fotokopiert und den Gruppen übersichtlich auf den Tisch gelegt. Die Aufgabe ist, Verbindungen zu suchen: Lassen sich bestimmte Karten direkt zu einem längeren Handlungsablauf verknüpfen? Passen, mit etwas Phantasie angeglichen, weitere Karten dazu? Könnte die Verbindung vielleicht durch hinzuerfundene Zwischenszenen geschaffen werden? Zeichnen sich schon "Hauptfiguren" ab? Die Gruppen halten ihr Ergebnis in Kurzform fest, womit ein "Pool" von Handlungssträngen zur Verfügung steht. Dieser geht wiederum in die "Ausschüsse" mit der Aufgabe, mögliche Verkoppelungen ausfindig zu machen. Könnten vielleicht sogar zwei Handlungsstränge parallel geführt werden?

Die Schauspielerei

Die Besetzung: Wählen Sie augenscheinlich schwierige Passagen aus den Rollen aus. Lassen Sie die Kandidaten etwas darüber erzählen, wie sie persönlich die Situation der Person in der betreffenden Szene sehen. Veranlassen Sie zwischendurch einzelne schauspielerische Versuche, z.B. "Gut jetzt spiele das mal: Wie sähe das aus, wenn du den Brief liest und in dir die Wut hochkommt?"

Die Kamera filmt diskret mit, die Entscheidungen fallen nicht am Spielort sondern später anhand der Bilder.

Rolleninterviews - Phantasierend statten die Darstellerinnen ihre Figur zu einem quasi echten Wesen aus. Also nicht nur "Ich bin Sonjas beste Freundin", sondern: "Wir gehen gerne zusammen ins Schwimmbad und können stundenlang über aufgeblasene Männer lästern."

Lassen Sie die Darstellerinnen und Darsteller sich gegenseitig zu ihrer Rolle interviewen! Gefragt werden darf alles, es darf immer weitergebohrt werden, entstehen soll quasi eine zweite Identität mit spezifischen Interessen, Kontakten, Reaktionsweisen und einer stimmigen Emotionalität. Zeichnen Sie die Interviews auf; sie werden voll von zusätzlich verwertbarem Material sein.

Proben: Nun, geht es darum, körperlich und sprachlich in die Rollen zu schlüpfen. Die Schauspielerinnen und Schüler versuchen herauszufinden, wie "ihre" Figur wohl steht, geht, sitzt, wie unruhig ihre Augen sind, was sie mit den Händen macht. Dann wird probiert wie sich die Dialogtexte in Kombination mit dem schauspielerischen Agieren bewähren. Wichtig vor allem: Welche Blickbewegungen legt beim Sprechen der Text nahe? Es werden so lange textliche und spielerische Alternativen gesucht, bis Figur, Dialog und Körper im Einklang sind. Die schließlich gefundenen Texte werden fixiert und - auswendig gelernt.

Die Dialoge

Vorsicht bei schriftlich erarbeiteten Dialogen! Sie fallen in der Regel recht lebensfern und schauspielerisch nicht realisierbar aus. Aber wir raten davon ab, das Heil in der Improvisation zu suchen. Sie ist für die meisten Schüler zu schwierig. Wir empfehlen, als erstes die vorhandenen Dialogtexte unter bestimmten Gesichtspunkten zu kürzen.

Ein Beispiel: Jenni mit ihrer besten Freundin auf dem Schulhof. "Sag mal, Sonja, warum warst Du vorgestern Abend eigentlich nicht bei Karl auf der Fete? Das war echt total stark, genau die richtigen Leute da, du weißt schon, nicht diese Prolls, wie sie immer im "Wave" in der Stadt rumhängen ... Warst Du denn nicht eingeladen?"

Das Beispiel zeigt drei der häufigsten Fehler, die zu "Unspielbarkeit" führen:

überflüssige Präzision: ("vorgestern", "abend', "bei Karl"). Im Gespräch mit jemandem, den man kennt, berücksichtigt man unwillkürlich dessen Informationsstand, und nicht nur Zuschauer sind sehr empfindlich, wenn hier etwas nicht stimmt. Bei den Darstellern kann sich kein echtes Spielgefühl einstellen; sie sind voll damit beansprucht Text abzuarbeiten. Abhilfe: alles weglassen, was der/die andere wissen müsste.


unverhüllter Missbrauch des Textes als Instrument zur Information der Zuschauer ("bei Karl", "wie sie immer" "in der Stadt" "rumhängen"). Abhilfe: versuchsweise alle Wörter, Sätze, Passagen, denen man sinngemäß "Du weißt doch ..." voranstellen könnte, streichen. Wenn dann wirklich wichtige Infos fehlen, kann man versuchen, sie zumindest etwas geschickter zu verstecken.


widersprüchliches Rollenbild. Der platte Einstieg ins Thema ("Sag, mal.. .") und die emotionale Sprunghaftigkeit des Textes verraten, dass die Überlegungen zur Rolle noch am Anfang stehen. Wie lange müssen diese "besten Freundinnen" schon nicht miteinander gesprochen haben. Oder steckt irgend etwas hinter der Fete, was Jenni bislang daran gehindert hat das Thema anzuschneiden? Warum dann gerade jetzt? Solche Überlegungen verlagern Sie aber besser auf die Proben (-> Schauspielerei). Dort werden Sie die "entrümpelten" Dialoge auch "psychologisch" spielbar machen.

Eine ausführliche Artikelserie über Regie und Jugendliche als Filmschauspieler finden Sie in psf (Praxis Schulfernsehen), Ausgaben 196 bis 204.

Anmerkung

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Praxis Schulfernsehen (psf) 228/95, S.66-67.




Paul R. Hilpert, hilpert@nils.nibis.de
03.10.2004