Florian Rötzer (Hrsg.)
Virtuelle Welten - reale Gewalt
Hannover: Verlag Heinz Heise, 2003
191 S., € 16,-
ISBN 3-88229-271-7





Besprechung von Michael Pechel
   

 

 

Themen der digitalen Kultur, Informationsfreiheit versus Zensur, das Verhältnis von Medien und Realwelt bilden seit langem einen Schwerpunkt des Online-Magazins Telepolis. Magazin der Netzkultur des hannoverschen Heise-Verlags. Als Printausgabe ist nun eine überarbeitete und erweiterte Sammlung von Beiträgen erschienen, die den Zusammenhang von Medien und Gewalt mit dem Focus auf die aktuelle Auseinandersetzung um Computerspiele diskutieren.

Der Herausgeber des Bandes und Chefredakteur von Telepolis, Florian Rötzer, geht in der Einleitung kritisch auf die Berichterstattung um "Erfurt und die Folgen" ein. Allgemein würden "Schablonen kurzschlüssiger Erklärung" der Medienwirkung von den Medien selbst geliefert, wobei die Finger jeweils auf den andern zeigen: In den Nachrichten werden Computerspiele als die Hauptschuldigen ausgemacht, im Fernsehen wird die Gewalt von Filmen ausgeblendet, während die Printmedien sich als unzuständig erklären, weil Gefahr ohnehin nur vom bewegten Bild ausgehen könne. Die Rede vom Internet als "Hassindustrie" und Computerspielen als "Software für Massaker" in einer prominenten deutschen Zeitung qualifiziert Rötzer als neue Form des Bildersturms, für den Wirklichkeit und Schein, Alltag und Spiel unterschiedslos zusammenfallen.

Wobei man sich allerdings trefflich um den Charakter von Webseiten streiten kann, auf denen genüsslich Prominente mit dem Spektrum zwischen Bin Laden und Teletubbies umzubringen sind, aber auch ein Spiel bereitsteht, mit dem ein Selbstmordattentäter durch die Straßen einer israelischen Stadt zu steuern ist. Belohnt wird der Spieler mit der höchsten Opferzahl. Provokation, Tabubruch, bewusster Verstoß gegen Political Correctness? Nach der Intervention des Zentralrats der Juden in Deutschland entfernte Telepolis den Link auf diese Seite. Eine direkte politische Instrumentalisierung von Computerspielen ist besonders aus der rechtsextremen Szene bekannt, so wenn der amerikanische Neonazi Gary Lauck in seiner Version der "Moorhuhnjagd" Juden zum Abschuss freigibt - die deutschen Inhaber der Rechte am Originalspiel wehrten sich erfolgreich vor Gericht dagegen. Im Spiel "Ethnic Cleansing" der rassistischen National Alliance gilt es, durch Mord ein "weißes Amerika" zu erreichen. Unschuldig dazu der jüngst verstorbene Führer der NA, William Pierce: "Unsere Spiele dienen nicht dem Zweck, den Hass zu fördern. Sie sollen den weißen Kindern ein Gefühl der Hoffnung vermitteln, ein Gefühl dafür, dass sie zurückschlagen können".

Aber die "falschen Freunde" des Computerspieles sitzen auch an anderer und regierungsamtlicher Stelle. Verschiedene Aufsätze des Buches gehen dem engen Zusammenhang von militärischer Simulation und Spieleentwicklung nach. Während bis vor einigen Jahren "Blut- und Ballerspiele" gewöhnlich im Genre von Fantasy und Science Fiction angesiedelt waren, nimmt zuletzt die Zahl höchst realistischer Kriegssimulationen zu. Besonders das Prinzip des Ego-Shooters und Teamfähigkeit der vernetzten Spieler macht sie für Übungszwecke des Militärs interessant, und folgerichtig hat die amerikanische Armee Millionen von Dollar in die Entwicklung von Spielen gesteckt, die nicht zuletzt der Rekrutenwerbung dienen: Im kostenlos aus dem Netz ladbaren "America's Army Operations" muss erst erfolgreich eine Phase von Schieß- und Grundausbildungen absolviert werden, bevor man an verschiedenen Schauplätzen der Welt am Kampf um Amerikas Freiheit teilnimmt. (Dazu: America's Army - Supercomputing einmal anders? in Telepolis). Das Spiel folgt in etwa dem Vorbild Counterstrike und ist unter Jugendlichen höchst beliebt. Da der "Fortschritt" der Kombattanten online interessiert verfolgt wird, kann der geschickte amerikanische Mitspieler bald mit Bewerbungsunterlagen in seiner Mailbox rechnen. Interessant ist, dass der Tod in diesem Spiel aseptisch und clean erfolgt - Pixelblut bleibt ausgespart. Leitbild ist Krieg als sauberer "chirurgischer Eingriff", wie er in der kontrollierten Medienberichterstattung des letzten Golfkriegs suggeriert wurde - das digitalisierte Hightech-Waffenarsenal spart den Anblick des konkreten körperlichen Gegners allerdings auch zunehmend aus, der Krieg mutiert zum scheinbaren Computerspiel, wenn die auf dem Maschinengewehr montierte Kamera ihre Sichtdaten zum Laptop des Soldaten transportiert, der so zum Schuss die Deckung nicht mehr verlassen muss. Ebenso hält die amerikanische Armee ihre Reservisten mit Flugsimulatoren von Microsoft in Übung, wobei sich die Firma nach dem 11. September des Verdachts erwehren musste, dass diese Übungssoftware an die Falschen geraten sei. Hartmut Gieselmann zieht in seinem Beitrag "Aktion ‚Sauberer Bildschirm'" das Resumé: Da sich die Verbotsforderungen hierzulande auf blutrünstige Darstellungen beschränken, legitimieren sie indirekt den sauber dargestellten realen Krieg und lenken so die öffentliche Empörung ab.

Ebenso kritisch wird die Haltung deutscher Politiker in Gerald Jörns Beitrag "Counterstrike aus Sicht des Jugendschutzes" betrachtet. Er skizziert darin die Veränderungen durch das novellierte Jugendschutzgesetz und betont, dass Jugendliche deutlich generationsspezifische Strategien auch im Umgang mit gewalthaltigen Medien erworben haben, die ihnen durch Verbote wieder entzogen werden sollen. Die Spieler glauben, die reale Welt von der virtuellen Spielumgebung durchaus trennen zu können - wichtiger als Restriktionen im Zugang zu Medien sei eine offene Diskussion der Gewaltproblematik in unserer Gesellschaft. Wobei allerdings der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (neuerdings: Medien) zugute zu halten ist, dass in der Entscheidung über die Indizierung von "Counterstrike" erstmals Jugendliche als "Sachverständige" gehört wurden. - In die gleiche Richtung argumentiert Manuel Ladas in "Brutale Spiele(r)?" Von einem konstruktivistischen Ansatz ausgehend, befragte er im Rahmen einer Dissertation mehr als 2000 deutschsprachige Spieler per Internet zu ihren Nutzungsgewohnheiten. Im Gegensatz zu zwischenmenschlichen Interaktionen und auch Spielfilmhandlungen zeichnet sich der interaktive Umgang mit dem Spielepersonal durch Fehlen der Dimensionen Empathie und Emotionalität aus. Entsprechend werde "Mord als Sport" betrieben: als reiner Wettbewerb, in dem der virtuelle Gegner zur "Schießbudenfigur" wird, dessen Eliminierung keinerlei Schmerz, Leid und Tot bedeute, weil eine psychologische Tiefendimension nicht vorhanden sei. Der (gewagte) Beitrag des Autors zur Theorie der Medienwirkung: "Und wo für die Nutzer keine schockierende Gewalt erkennbar ist, kann diese auch nicht "abstumpfend" oder brutalisierend wirken". - Ähnlich ruft Karsten Weber im Aufsatz "Gewalt und Medien, Gewalt durch Medien, Gewalt ohne Medien?" zur Vorsicht auf, wenn von "gesicherten Ergebnissen der Medienwirkungsforschung" gesprochen wird und monokausale Abhängigkeiten festgestellt würden: zu unterschiedlich sei der zugrundegelegte Gewaltbegriff, zu klein die Zahl der Probanden, zu künstlich die Laboratmosphäre vieler Untersuchungen, und vieles mehr. In der Tat lassen sich bei Menschen, die immer ein Bündel von Lebenserfahrungen und Einflüssen darstellen, anders als im physikalischen Experiment Faktoren nicht künstlich isolieren. Wenn in neueren Untersuchungen hervorgehoben wird, dass Jugendliche in einem insgesamt gewalthaltigen sozialen Umfeld auch gewalthaltige Medien präferieren, stellt sich das bekannte Henne-Ei-Problem: Was war zuerst? Auf keinen Fall aber ist dem Autor in der Einschätzung zuzustimmen, dass schon methodologisch jede Untersuchung der Relation von Medienkonsum und Aggression diesen Zusammenhang voraussetzen müsse und damit ihr Ergebnis vorwegnehme.

Weitere Beiträge gehen auf neuere Untersuchungen von Schulmassakern und Amokläufen und ihr Echo in der Mediengesellschaft ein, der bekannte Kölner Spieleforscher Jürgen Fritz widerspricht im Interview der Vermutung, dass die Handlungsmuster von Computerspielen ("Skripts") vom Gamer umstandslos auf die reale Welt übertragen würden. Der Umgang mit konkreten Waffen z.B. im Schützenverein sei handlungsrelevanter. Ein abschließender lesenswerter Aufsatz von Rudolf Maresch liefert einen aktuellen Überblick der Diskussion um "Medien der Gewalt - Gewalt der Medien".

Alles in allem liefert der Sammelband trotz einiger inhaltlicher Überschneidungen einen guten Einblick in die kontroverse Auseinandersetzung um Medien und Gewalt. Sein theoretisches Niveau ist hoch, aber der Komplexität des Gegenstands angemessen. Damit erfüllt er seinen Anspruch, einen Gegenpart zu plakativen und kurzschlüssigen Thesen der Medienwirkung zu bieten.


 
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